Eine Analyse von über 3.700 Schwangerschaften von Frauen mit Multipler Sklerose deutet darauf hin, dass die Therapie nicht zu einem erhöhten Risiko für Fehlgeburten, Frühgeburten oder schwere Geburtsfehler führt. Bei vielen Frauen wird Multiple Sklerose (MS) in einem Alter diagnostiziert, in dem sie über die Gründung einer Familie nachdenken. Was bedeutet die Krankheit und ihre medikamentöse Behandlung für das Kind?
Um diese Frage zu beantworten, analysierte ein Forschungsteam unter der Leitung von Professorin Kerstin Hellwig von der Neurologischen Klinik der Ruhr-Universität Bochum über 3.700 Schwangerschaften von Frauen mit MS. Mehr als 2.800 von ihnen wurden vor oder während der Schwangerschaft mit verschiedenen immunmodulierenden Wirkstoffen behandelt. Die Forscher haben festgestellt, dass die meisten Therapien nicht mit einem erhöhten Risiko für Fehlgeburten, Frühgeburten oder schwere Geburtsfehler verbunden waren. Sie veröffentlichten ihre Ergebnisse in The Lancet Regional Health Europe.
Eine der größten Kohorten weltweit
Die Daten für die in die Studie einbezogenen Schwangerschaften stammen aus dem Deutschen Multiple Sklerose und Schwangerschaftsregister und wurden zwischen November 2006 und Juni 2023 erhoben. 2.885 Schwangerschaften wurden analysiert, bei denen die Mütter eine sogenannte krankheitsmodifizierende Therapie (DMT) erhalten hatten. Zu den in der Studie verwendeten Substanzen gehörten Interferone, Glatiramer-Actat, Dimethylfumarat, Teriflunomid, S1P-Modulatoren (Fingolimod, Ponesimod), Alemtuzumab, Natalizumab, Anti-CD20-Antikörper (Rituximab, Ocrelizumab, Ofatumumab) und Cladribin. 837 Schwangere hatten keine Medikamente gegen MS erhalten. „Diese Kohorte ist eine der größten weltweit“, betont Kerstin Hellwig. “Sie weist eine hohe Variabilität in der Exposition gegenüber den verschiedenen Immuntherapien auf. Die meisten Frauen hatten nur im ersten Schwangerschaftsdrittel Medikamente erhalten.“
Die Forscher verglichen die Häufigkeit von Fehlgeburten, Infektionen während der Schwangerschaft, Frühgeburten und Geburtsfehlern und erfassten das Geburtsgewicht der Kinder. Das wichtigste Ergebnis war, dass die Exposition gegenüber den meisten DMT während der Schwangerschaft nicht mit einem statistisch signifikanten Anstieg der Inzidenz von Spontanaborten, Frühgeburten oder schweren angeborenen Defekten verbunden war. „Aufgrund der geringen Fallzahlen bei Schwangerschaften mit Cladribin-, Teriflunomid- und Alemtuzumab-Exposition können wir keine eindeutigen Schlussfolgerungen über seltene Ereignisse wie angeborene Defekte oder schwere Infektionen ziehen“, räumt Hellwig ein.
MS-Medikamente erhöhten das Risiko für ein geringeres Geburtsgewicht nur leicht
Insgesamt zeigte sich in der gesamten Kohorte ein erhöhtes Risiko für ein niedriges Geburtsgewicht in Abhängigkeit von der Schwangerschaftsdauer. 18,8 Prozent der Babys waren betroffen. Im Verhältnis zu allen Geburten in Deutschland sind dies nur 10 Prozent. Auch Kinder von Müttern mit MS, die keine Medikamente erhalten hatten, wiesen mit 17,6 Prozent häufiger ein unterdurchschnittliches Gewicht auf. Besonders ausgeprägt war dieses Risiko bei einer Exposition gegenüber S1P-Modulatoren (27,4 Prozent) und Anti-CD20-Antikörpern (24,1 Prozent).
Schwere Infektionen während der Schwangerschaft waren insgesamt selten. Bei Schwangerschaften ohne Medikation traten sie bei etwa einem Prozent der Mütter auf. Bei Schwangerschaften mit Fumarat- oder Alemtuzumab-Exposition waren sie statistisch signifikant häufiger (2,8 Prozent bzw. 9,1 Prozent). Schwerere Infektionen traten – wenn auch nicht statistisch signifikant häufiger als in der Kontrollgruppe – bei Schwangerschaften auf, die im letzten Schwangerschaftsdrittel mit Natalizumab behandelt wurden, und bei Schwangerschaften, die mit S1P-Modulatoren (jeweils drei Prozent) und mit Cladribin (4,8 Prozent) behandelt wurden. „Es ist interessant festzustellen, dass schwere Infektionen nur bei 0,6 Prozent der Schwangerschaften auftraten, die Anti-CD20-Antikörpern ausgesetzt waren“, betont Kerstin Hellwig. Frauen, die im zweiten (26,7 Prozent) oder dritten (20,7 Prozent) Schwangerschaftstrimester Natalizumab erhielten oder bis zu sechs Monate vor ihrer letzten Menstruation mit Anti-CD20-Antikörpern behandelt wurden (23,2 Prozent), erhielten während der Schwangerschaft häufiger Antibiotika als Frauen, die keine DMT erhalten hatten (12,1 Prozent).
Individuelle Risiko-Nutzen-Bewertung
„Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass es etwa 300 Schwangerschaften braucht, um eine Verdreifachung des Risikos schwerer Geburtsfehler zu zeigen, und etwa 1.000, um eine Verdoppelung zu zeigen“, sagt Kerstin Hellwig. Während die meisten DMTs das Risiko für kritische Schwangerschaftskomplikationen nicht erhöhen, erhöht die Exposition gegenüber S1P-Modulatoren, Natalizumab und Anti-CD20-Antikörpern die Wahrscheinlichkeit eines niedrigen Geburtsgewichts und eines verlangsamten intrauterinen Wachstums. Dies ist ein Risikofaktor sowohl für den fetalen und neonatalen Tod als auch für zahlreiche Krankheiten im späteren Leben, einschließlich Typ-2-Diabetes mellitus und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Es gibt Pläne für weitere Auswertungen im Register, beispielsweise ob und wann die Kinder den Wachstumsnachteil aufholen werden. Die Ergebnisse unterstreichen laut den Forschern die Bedeutung einer individuellen Risiko-Nutzen-Abwägung und einer engmaschigen medizinischen Betreuung während der Schwangerschaft.